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Heute unterhalten wir uns über ein kleines, aber um so bekannteres Alltagsphänomen – den Kaffee. Zunächst besprechen wir die Geschichte des Kaffees und der Kaffeehauskultur von seinem Aufkommen als Luxusartikel in Europa bis zum heutigen Coffee to Go. Allmählich nähern wir uns dann von der Makro- der Mikroperspektive des Rituals und fragen nach Unterschieden zwischen einer Einladung zum Kaffee und zum Bier.

Wir sprechen über die historische Kaffeehauskultur des 17.Jhd bist zum Coffee to Go von Kaffeehausketen in Europa bis heute. Allmählich nähern wir uns von der Makro- zur Mikroebene und fragen bald nach dem Unterschied zwischen einer Einladung zum Kaffee- und zu einer zum Eis.

00:22 Begrüßung
05:55 Geschichte des Kaffees
10:45 Gesundheit
11:38 Kaffehäuser
12:20 Kaffee als Distinktionsmerkmal
18:20 Mikro Makro und Wirtschaft
28:38 Kaffeemerkmale
29:52 Geselligkeit
32:32 Gradmesser für Normalitäts
33:25 Seismograph gesellschaftlicher Entwicklungen
34:50 Arbeitsethik
35:24 Zigarettenersatz
38:24 Lebensstile
45:00 Starbuckskaffeekultur
57:30 Generationsfragen
1:03:38 Wieso brauchen wir Kaffee?
1:10:25 Warum nicht nur Reden
1:14:14 Goffman & Ritual
1:17:00 Massenmedialer Diskurs
1:19:53 Die Mahlzeit
1:23:18 Billige Kaffeeeinladungen
1:24:30 Kaffee vs Eis vs Bier
1:31:06 Heißgetränke erzwingen Vorsicht?
1:41:45 Hörerfragen
2:02:04 Optimale Kaffeezeit
2:03:05 Drei Kaffee in Äthiopien
2:04:46 Verabschiedung
2:05:44 Outrosong

Shownotes-Notizen:

Geschichte des Kaffees: Der Legende nach stammt der Kaffee aus Äthiopien, wo ein Hirte beobachtete, wie seine Tiere nach dem Verzehr von Kaffeebohnen sehr lebhaft wurden. Er testete die Bohnen selbst und der Kaffee mit seiner belebenden Wirkung war entdeckt. In Europa tauchte Kaffee erstmals 1615 in Venedig auf und wurde sofort als Erfindung des Satans kritisiert. Der Papst sollte ein Machtwort sprechen. Nach einem Schluck Kaffee, war er jedoch von diesem neuartigen Getränk derart begeistert, dass er ihm seinen Segen gab. Im Laufe der Jahrhunderte entstand in Europa eine ausgeprägte Kaffeehauskultur, welche die Dichter und Denker der damaligen Zeit anzog. Rousseau, Voltaire, Bach und Goethe waren bekannte und bekennende Kaffeehausbesucher. In Amerika galt Kaffee spätestens seit der Boston Tea Party 1773 als Alternative des unpatriotischen Tees. Zu Beginn war Kaffee als teures Gut ein Distinktionsmerkmal für den Adel und die gehobene Schicht. Dies ließ erst nach, als das Volk Mittel und Wege fand, Kaffee zu strecken und Kaffeeersatz herzustellen. Kaffee blieb dennoch lange Zeit ein Getränk für besondere Tage und Sonntagsausflüge. Bis Mitte des 19.Jhd. war die Kaffeekultur eine reine Herrenangelegenheit. Dies änderte sich mit dem Aufkommen der Kaffekränzchen in der Damenwelt. In der Nachkriegszeit wurde Kaffee zum Symbol für Normalität. Bis in die 80 Jahre war Kaffee positiv besetzt. In den 80ern verlor Kaffee sin Westdeutschland eine hervorgehobene Stellung durch aufkommende Supermärkte und deren Billigkaffeeangebote. In Ostdeutschland war Westkaffee aber weiterhin ein begehrtes Produkt. Erst Starbucks sollte es wieder gelingen, Kaffee als Distinktionsmerkmal zu etablieren, indem es einfach sehr teuren Kaffee verkaufte, den sich nicht jeder leisten konnte und wollte. Wegen der spezifisch europäischen Kaffeekultur blieb Starbucks in Europa jedoch weit hinter seinen Absatzzielen zurück. Im Gegensatz zur US-amerikanischen Kaffeekultur, in der es auf Geschmack ankommt, ist Kaffee in Europa vor allem mit Geselligkeit verknüpft. Heute heißt die Kaffeekultur jedoch Kaffee to Go.

Gesundheit: Seit dem 18.Jhd. streiten die Experten, ob Kaffee gesund oder schädlich sei. Johan Sebastian Bach schrieb in diesem Rahmen seine ironische Kaffeekantate mit dem Text: „Trinkt nicht zuviel Kaffee!“ Bis heute ist die Studienlage widersprüchlich. Allgemein gilt Kaffee jedoch als gesundheitsfördernd. Studienlage heute: Angeblich verkürzt Kaffee die Telomere und Introvertierte können nach Kaffeekonsum mit Streß nicht umgehen, während Extrovertierte durch Coffein beflügelt werden.

Im 17. und 18. Jhd. versammelte sich das aufstrebende Bürgertum in Kaffeehäusern. Der Adel konsumierte hingegen unter sich. So wurden Kaffehäuser lt. Jürgen Habermas die Keimstätte einer neuen bürgerlichen Öffentlichkeit. Kaffee nicht nur als Distinktionsmerkmal, sondern auch als Konjunktionsmerkmal. Distinktionswirkungen von Kaffee sind auch heute zu beobachten, z.B. beim Katzenkaffee. Friedrich der Große verbot Kaffee, um die Monopolwirkung des Staates zu sichern. Auch verdrängte Kaffee den Bierabsatz.

Kaffee ist nach Öl das zweithäufigste Exportprodukt auf dem Weltmarkt. Mikro-Makro-Aspekte des Kaffees. In den kleinen Dingen finden Makrophänomene ihren Ausdruck. Der Kaffeepreis hängt nicht nur mit den Produktionskosten zusammen. Eine Marketingtrategie zielt auf künstliche Erhöhung des Preises, um Menschen die Möglichkeit der Distinktion zu geben.

Lebensstile: In den 80ern war Kaffee ein Zeichen dafür, dass man viel arbeiten musste und daher viel Koffein brauchte. Diese Deutung hat sich heute völlig ins Gegenteil verkehrt. In der TV-Werbung wurde Kaffee in den 80ern als Wohlfühllebensstil beworben. Ersatzkaffeewerbung zielte auf die Landbevölkerung (Landkaffee) bzw. auf Leute, die sich ländlich inszenierten.

Eine der wichtigsten latenten Funktionen der Werbung ist es, die Menschen mit Geschmack zu versorgen.

Ist im Kaffee etwas inhärent, was das Kaffeeritual fördert oder basieren Distinktionen rein auf die Verfügbarkeit? Ins Kaffeekochen spielen mehr Faktoren hinein als in anderen Getränken.

Kaffee galt als Mittel zur Beförderung der Dichterkraft. Kaffee galt historisch als Wachmacher und war daher als Kulturgetränk einer bürgerlichen Schicht von Intellektuellen der Aufklärung prädestiniert, immerhin ging es damals darum aufzuwachen und sich seines eigenen wachen Verstandes zu besinnen.

Obwohl sich die Menschen in der Nachkriegszeit kaum Kaffee leisten konnten, verankerte er sich im kollektiven Gedächtnis als Seismograph für Normalität.

Ist Kaffee Ausdrucksform sozialer Makroprozesse oder als Mikroendität mitgestaltender Akteur sozialer Prozesse?

Kaffeesorten haben sich inzwischen zusammen mit den Lebensstilen sehr stark ausdifferenziert.

Heute zeigt Kaffee die protestantische Nüchternheit einer beschleunigten Arbeitsethik an, in der wir immer wach und nüchtern sein müssen.

Ist Kaffee to Go eine Parallele zu einer Beschleunigungsgesellschaft oder ein Substitutionsgut für Zigaretten. Zigaretten sind aufgrund zunehmender Bio-Lebensstile ins Abseits geraten, der Mensch braucht aber etwas in den Händen. Biolebensstile: Selbstoptimierung für den Markt. 30% der Deutschen rauchen. Anti-Raucherkampagnen wirkten vor allem bei Männern (in den 80ern noch 45% Raucher). Frauen hingegen rauchen gegenüber den 80ern mehr (ehemals 15%). In den letzten 15 Jahren blieben die 30% stabil. Tabak als Lebensstil war früher ausgeprägter (Pfeife, Zigarren).

Lebenstil- und Milieuforschung: Kaffee ist ein relevantes Konsum zur Selbstdarstellung – Latte Macchiato Mütter, Soj-Latte, Fair Trade.

Sind Mitglieder der Kreativbranchen, welche mit Laptop, WLAN und Kaffee in Starbucks sitzen eine Entsprechung zur Öffentlichkeit historischer Kaffeehäuser?

Massenmedien als Vermittler von Kaffee-Lebensstilen.

Wieso ist Latte Macchiato bei Jugendlichen sehr beliebt? Tilman Allerts These: Milch steht für Kindheit, Kaffee fürs Erwachsensein. Latte Macchiato besteht vor allem aus Milch. Jugendliche können hierdurch den Geschmack des Erwachsenseins kosten, ohne die Sicherheit der Kindheit aufgeben zu müssen: „Wer Latte Macchiato trinkt, trinkt schon den Kaffee, der die Milch hinter sich gelassen hat, aber bleibt der Milch treu, die doch keine mehr ist.“

Studie: Milch überbrückt die Institutionen Schule und Familie, während Kaffee dient als Differenz innerhalb der Institution Familie.

Erinnerung an Bourdieus Untersuchung der Kabylen. Qualitatives Forschen, ein wenig Kritik.

Das Kaffeeritual: Wieso brauchen wir den Kaffee oder überhaupt einen Anlass, um uns zu treffen? Wieso verabreden wir uns nicht nur zum Reden? Nach Goffman wird soziale Wirklichkeit in der Interaktion hergestellt. Rituale – und so auch das Kaffeeritual – dienen dazu, Aufmerksamkeit der Akteure zu binden. Beim Kaffeetreffen kann Aufmerksamkeit solcherart gebunden werden. Kaffeetrinken mit seinen zahlreichen Mikrohandlungen in der Handhabung schützt auch vor peinlichem Schweigen.

Verzehrsformen sind in der Regel gemeinschaftsstiftend. Deshalb ist es sinnvoll, neue Bekanntschaften zu einer Verzehrsform einzuladen.

Reines Reden ist viel verbindender und überwindet schnell Barrieren. Das Kaffeeritual hält implizit die Mahnung, diese Barriere nicht zu überschreiten. Es hält die Option offen, unverbindlich auseinander oder einen Schritt weiter in die Intimität zu gehen. Das Ritual schützt vor Intimität.

Wir handeln und während wir handeln, tun wir alle noch etwas anderes. Latente Funktionen.

Das Kaffeeritual erklärt aus der Differenz innerhalb massenmedialer Inhalte.

Mahlzeiten als Notwendigkeit sind eher mit sozialen Zwangsnetzwerken (Familie, Arbeitskollegen) assoziiert, Kaffee als Nichtnotwendigkeit eher mit losen Bindungen (strong and weak Ties, siehe Mark Granovetter).

Mit der Einladung gebe ich etwas über meine Beziehung zum Gegenüber Preis: Der Unterschied einer Kaffeeeinladung zu einer Einladung zum Eis oder Bier. Zeit als Modulator einer Kaffeeeinladung (16 Uhr oder 20 Uhr). Bier als Modulator der Zeit, in einer Biereinladung schwingt eine feste Zeit mit, in einer Kaffeeeinladung nicht. Partnerschaftliche Aspekte von Einladungen. Der Mensch als Homo Ökonomicus investiert nicht sofort in teure Essenseinladungen. Abstufung Kaffee-Eis-Abendessen.

Kaffee ist historisch mit dem Wachmacher-Symbol verbunden. Daraus entwickelten sich Einladungsrituale. Heute spielt der Kaffee als Wachmacher im Einladungsritual keine Rolle mehr, jedoch ist die ehemalige Funktion des Kaffees noch heute sozial konserviert. Kaffeeeinladungen können somit legerer ausgesprochen werden, da ihnen noch andere Funktionen mitschwingen, währen Eis als reine quasifunktionslose Lustgewinnverzehrsform viel intimer konnotiert wird als Kaffee. Dies geschieht abseits von ökonomischen Dimensionen.

Kaffee als soziale Übergangsspeise.

Kaffee als Heißgetränk zwingt zur Vorsicht bei der Verzehrsform. Dies entspricht seiner sozialen Funktion einer vorsichtigen Kontaktaufnahme. Zufall? Kaffeetreffen sind Treffen der Zurückhaltung und Vorsicht. Im gegensatz sind Biertreffen intimer, da Alkohol die Masken fallen lässt. Lassen sich Rituale aus den physischen Eigenschaften eines Konsumgutes ableiten oder benötigt es dazu die Makroperspektive und historische Erklärungen?

Kaffeepause vs. Raucherpause. Dient die Kaffeepause der Leistungsoptimierung? Wahrscheinlich nicht, da auch sie von Arbeitnehmern gegen die Arbeitgeber erstritten werden muss. Kaffeepausen sind kein Arbeitnehmerrecht.

In Äthiopien trinkt man drei Kaffee: die erste Tasse für den Genuss, die zweite für das Gespräch, die dritte für den Segen.

Diese Folge steht unter einer Creative Commons Nemansnennung Lizenz 4.0.

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Musik:

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Kaffeevollautomatsklave
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